Wie ein Shangri-La für Kunst- und Kulturschaffende, nur unter weißblauen statt tibetischen Himmeln, präsentiert sich im Rückblick die bayerische Hauptstadt um 1900 – und eng verwoben mit dem Begriff „Münchner Bohème“. Erwähnt man ihn, klingelt es bei den allermeisten von uns, was jedoch sich genau damit verbindet, hat Gunna Wendt in nachstehendem Beitrag auf den Punkt gebracht. Darauf fußen auch eine ganze Reihe von Biografien, die die Schriftstellerin Münchner Kunstschaffenden gewidmet und für die sie 2017 den Schwabinger Kunstpreis erhalten hat.
München übte am Ende des 19. Jahrhunderts eine große Anziehungskraft auf Künstlerinnen und Künstler aus. Man sprach von einer „ländlichen Großstadt“, die längst nicht so von Industrieanlagen und -bauten dominiert war wie andere Städte. Gefördert durch das großzügige Mäzenatentum des Prinzregenten Luitpold, genoss die Kunst ein hohes Ansehen in der Stadt. Um 1900 waren etwa 1 200 Künstler offiziell in München registriert, 13 Prozent der im Deutschen Reich insgesamt gemeldeten. Das politische Klima galt, trotz einzelner spektakulärer Prozesse, als vergleichsweise liberal, kritische Zeitschriften siedelten sich an, allen voran der „Simplicissimus“ und die „Jugend„.
So konnte sich in München ein ganz besonderes Lebensgefühl entfalten, das mit dem Code „Schwabinger Boheme“ auf den Begriff gebracht wurde.
Gunna Wendt, Schriftstellerin
Es setzte sich aus unterschiedlichen Strömungen zusammen: Kunst, Politik und Wissenschaft gingen eine ungewöhnliche Liaison ein. Ein Leben ohne Alltag wurde genauso propagiert wie das Leben als niemals endendes Fest, dessen Motto Freiheit, Großzügigkeit und Genuss waren. Vor allem die Frauen akzeptierten nicht länger den Platz und die Rolle, die ihnen gesellschaftlich zugewiesen waren. Sie machten sich auf die Suche nach einer eigenen Identität und traten in den Prozess einer permanenten Selbst- und Neuschöpfung ein. Gelegenheit dazu boten die privaten Malschulen, die in München entstanden und eine internationale weibliche Künstlerschaft anlockten – zu einem Zeitpunkt, als ihnen die staatlichen Kunstakademien noch verschlossen waren.
Es war die Zeit der legendären Faschingsbälle, der künstlerischen und erotischen Salons. Absoluter Mittelpunkt des Treibens war schon bald Franziska zu Reventlow. Die aus dem Schloss vor Husum stammende junge Gräfin avancierte innerhalb kurzer Zeit zur Schwabinger Szenequeen. Sie führte am konsequentesten ein Leben jenseits des Konventionellen und Konformistischen. Auch aus Norddeutschland stammte eine andere Schwabinger Ikone: die Diseuse Emmy Hennings, die rasch zum Star der Künstlerkneipe Simplicissimus avancierte. Ihr Weg führte sie von Flensburg über Köln, Frankfurt, Hannover, Berlin und 1910 München. Sie berichtet: „München wurde in mancherlei Hinsicht für mein späteres Leben entscheidend. Ich kam hier sehr rasch in einen Kreis von gebildeten Menschen, die natürlich einen sehr günstigen Einfluss auf mich ausübten. In unserem Kabarett, das literarisch einen guten Ruf hatte, verkehrte die Bohème, viele Ausländer waren hier anzutreffen, aber auch bedeutende Künstler und Schriftsteller.“
Nicht nur die Dichter und Intellektuellen begehrten sie als Muse und Geliebte, auch die Maler wollten sie als Modell. Emmy Hennings hatte zahlreiche Affären und Freundschaften, tauchte in das Bohème-Gefühl ein, das die bürgerliche Moral ablehnte und genoss das Umworbenwerden in vollen Zügen.
Vom „Leben“ sprach man in der allgemeinen Aufbruchstimmung der Jahrhundertwende in einem gesteigerten Bewusstsein, emphatisch, mit einem ungewohnten Pathos. Die Bewegung verstand sich als Gegenpol zur Religion: Der Blick sollte auf das Diesseits gerichtet, die Jenseitsvertröstung des Christentums überwunden werden. Was zählte, war das Hier und Jetzt. Damit verbunden war das Bestreben, die eigene Erfahrungs- und Empfindungsfähigkeit zu intensivieren. Drogen spielten in der Schwabinger Boheme eine große Rolle. Morphin und Äther waren bereits Themen der frühen Gedichte, die Emmy Hennings um 1912 verfasste. „Morfin“ schildert einen Morphiumrausch, das Warten auf das letzte Abenteuer im „Fieberfrost“, bei dem der Sonnenschein genauso wenig beachtet wird wie die Tagespost. Die „hochaufgetürmten Tage“ stürzen ein, das eilige Streben der Menschen wird wissend belächelt: „Wir treiben haltlos durchs Leben / Und schlafen, verwirrt, hinüber…“
Auch Franziska zu Reventlow widmete dieser Droge eine kurze Skizze mit dem Titel „Leben: Die Begegnung mit einer Morphinistin stürzt die Ich-Erzählerin in eine krisenhafte Situation. Im Tagebuch erwähnt Franziska zu Reventlow Morphium im Zusammenhang mit ihren Krankheiten – als Mittel, um die starken Schmerzen zu betäuben. Ob sie noch andere Drogen nahm, ist nicht belegt. Das Rauchen bezeichnet sie als ein Laster, von dem sie nicht loskommt: „Der Cigaretten-Morphinismus, über den man nicht mehr Herr wird. Bis jetzt auf drei pro Tag abgewöhnt, aber ich werde stumpfsinnig sobald mir das Gift fehlt. Misère de moi.“
Gunna Wendt
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Gunna Wendt: Kurz-Bio und Bibliografie >
Auf den Beitrag gestoßen bin ich im Zuge der Recherchen zu meiner aktuellen Collage (25./27.3.2022) über die UR-Münchnerin und legendäre Simpl-Wirtin Toni Netzle (1930 – 2021), da mein Schwerpunkt auf der zeitgeschichtlichen Einordnung sowohl der Person Toni Netzle wie auch auf der Lokalität Alter Simpl/Simplicissimus liegt.