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Bundesverdienstkreuz für Luigi Toscano und sein Langzeitprojekt „‚Gegen das Vergessen“: Eine weltweite Wanderausstellung von Fotoportraits Holocaust-Überlebender, darunter, vielen unvergessen, der Sinto Peter Höllenreiner

Opfer des Holocausts aus den gesichtslosen Statistiken herauszuholen und nachhaltig zu personalisieren, ist dem deutsch-italienischen Fotografen Luigi Toscano auf einzigartige Weise gelungen: Gezielt stellt er seit 2014 seine Fotoportraits in Überlebensgröße im öffentlichen Raum aus – sowohl innen, wie auch open air – um möglichst breite Bevölkerungsschichten zu erreichen, wie er mir bei einem Telefon-Interview im Sommer erläuterte. Dadurch erzeugt er Schnittstellen zwischen einer Gesellschaft mit bedenklich verblassender Erinnerungskultur einerseits und ZeitzeugInnen des Holocaust andererseits, deren Schicksal er mit den Mitteln der Fotokunst in intensiven Momentaufnahmen beleuchtet, als unverrückbare Mahnung an nachkommende Generationen, weltweit und an unterschiedlichsten Orten!

Durch die beiläufige Begegnung mit den Gesichtern der Überlebenden im öffentlichen Raum findet automatisch eine Auseinandersetzung statt.
[…]
Deshalb glaube ich: Das Thema muss auf die Straße.

Luigi Toscano, 03.03.2020 > MEHR

Aus einem Beitrag von 2018 > www.swr.de
Ein Teil der eineinhalb mal ein Meter großen Fotos hängt am Zaun vor dem UN-Gebäude an der 1st Avenue, ein anderer Teil im Gebäude. Wo wirken die Bilder mehr? – „Ich glaube im Freien“, antwortet Luigi Toscano. „Nachdem ich aufgebaut hatte, kamen UN-Mitarbeiter auf mich zu und haben mir erzählt: Es ist nicht normal, dass ein New Yorker die Straßenseite wechselt!“

Fotos von Luigi Toscano vor dem UN-Hauptquartier in New York (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa - Kathy Willens)
Portraits von Luigi Toscano am Zaun vor dem UN-Gebäude in New York, 2018

Mit seinem Foto-Projekt Gegen das Vergessen und den entsprechenden, internationalen Wanderausstellungen, legt Toscano Zeugnis ab für all diejenigen, die allmählich verstummen – im Gegensatz zu ihren Portraits. Die kommen, dank ihrer Ausdrucksstärke, ohne Worte aus und wirken wie in Falten nachgezeichnete Chroniken menschlicher Schicksale. Dadurch entwickeln sie eine starke Sog-Wirkung auf die Passanten – als würden sie nach einem rufen – wie ich selbst bei einer Ausstellung im Untergeschoß des Münchner Hauptbahnhofs erleben durfte. Diese erfolgte im Sommer 2021, als Teil eines Erinnerungsprojekts der Deutschen Bahn. Gezeigt werden noch bis in das kommende Jahr hinein Portraits Toscanos in den Arealen verschiedener Hauptbahnhöfe.

Eindrücke aus meinem FB-Post vom 26.7.2021:
Für Gänsehaut pur sorgen nicht nur die Nahaufnamen von Gesichtern, in denen einem ein lange gelebtes Leben begegnet, und das Wissen um unfassbares Grauen – auch der Kontrast zwischen dem wuseligen Treiben im Bahnhofsuntergeschoss und der Ausstellung berühren und regen zum Nachdenken an, über diese Nähe von Alltagsbanalität und Drama hoch drei, Letzteres nachzulesen in den biografischen Eckdaten neben den Portraits.

Holocaust-Gedenken neben Ladengeschäft in UG des Münchner Hauptbahnhof: Abbild des Lebens in extrem kontrastierenden Facetten und gerade dadurch wirkungsvoll

Greifbar, so schildert es Toscano in einem filmischen Feature über seine Arbeit, werden die Schicksale vor allem, wenn man in unmittelbare, tatsächliche Berührung mit Überlebenden kommt. Dem kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen, und diese motiviert auch mich seit fast 30 Jahren, mit Veranstaltungen und Bühnen-Historicals sowie Blog-Artikeln wie dem vorliegenden, meine eigenen Beiträge „Gegen das Vergessen“ zu leisten. Dadurch bin ich vor einiger Zeit auch mit dem Schicksal der im Holocaust pauschal als „Zigeuner“ verfolgten Sinti und Roma, Jenischen und Reisenden konfrontiert worden. Dadurch wiederum ergibt sich zu Luigi Toscanos Arbeit ein weiterer Bezug, in der Person des Sintos Peter Höllenreiner.

Bis zu seinem Tod, 2019, kannte ich ihn als einen der liebenswertesten und attraktivsten alten Herren, die mir je begegnet sind, empfand ihn stets als das, was man eine „Erscheinung“ nennt!

Links Peter Höllenreiner, portraitiert von Luigi Toscano (Bildaussch.),
rechts Peter Höllenreiner fotografiert von Maria Anna Willer 2019, in Auschwitz

Auf dem Portrait von Luigi Toscano jedoch wirkt sein Gesicht ungewohnt verletzlich und nackt, als habe der Künstler ganz vorsichtig die Oberfläche dieses Mannes abgetragen und dabei jenes verschwiegene Leid freigelegt, das Peter ein Leben lang begleitet hat, auf Grund seines geballten Schicksals als Holocaust Opfer, kindliches Versuchskaninchen auf Dr. Mengeles OP-Tisch und später als weiterhin diskriminierter Sinto sowie schwer traumatisierter Mensch.

Dito ergeht es mir bei der Ansicht von Peters SchicksalsgenossInnen, die einen eindringlich vom Plakat aus fixieren und dabei beunruhigend viel ausstrahlen, nämlich die Quintessenz eines Lebens, von dem man im Vorfeld weiß, dass es durch fremde Schuld dauerhaft belastet worden ist.

Genau um solche Abbilder verborgener Wahrheiten, um das Eröffnen von Perspektiven, sollte es für mich vorrangig in der Kunst gehen, eine qualitative Anforderung, die sich auf keiner Akademie erlernen lässt. Entweder trägt man diese Art schöpferischer Fähigkeit in sich oder nicht. Luigi Toscanos Kunst zeichnet genau diese natürlicher Gabe aus, die vor allem nach Herzensbildung und intuitiven Fähigkeiten verlangt. „Experten“, die seine Fotos stilistisch an irgendeiner namhaften Kunstakademie verorten wollten, belehrte er unumwunden eines Besseren, wie er in einem filmischen Beitrag berichtet: Der Autodidakt hat sich lediglich die Basics in VHS-Kursen angeeignet.

Mehr zu seinem fotografischen Werdegang > HIER sowie zu Beginn des TV-Videos am Text-Ende

Luigi Toscano

Mittlererweile hat der Fotograf über 400 Holocaust-Überlebende portraitiert und 180 davon in einem Bildband verewigt, wobei ihm bei seiner Arbeit wichtig ist, auch alle weiteren Opfergruppen zu berücksichtigen, die, neben den sechs Millionen jüdischer MitbürgerInnen, ebenfalls dem Holocaust anheim fielen.


Titel: Gegen das Vergessen/Lest we forget
Autor: Luigi Toscano
ISBN: 3898236048
EAN: 9783898236041

160 farbige Abbildungen.
Sprachen: Deutsch Englisch.
Edition Panorama GmbH

2. März 2020 – gebunden – 240 Seiten
> DETAILS

Die leise Tragik, die, unabhängig von Herkunft, Aussehen oder Geschlecht, aus den Augen der Portraitierten spricht, überträgt sich emotional auf die BetrachterInnen und erschließt so, ganz ohne Worte, ein stückweit die eigentlich unfassbare Tatsache des Holocausts; ein Schlüsselerlebnis, das umso wichtiger wird, je mehr es bei den nachwachsenden Generationen an persönlichen Bezügen mangelt.

Wenn kein Lächeln die Traurigkeit zu übertünchen vermag …
Zwei der von Luigi Toscano portraitierten Holocaust-Überlebenden

Der Jugend gilt daher Luigi Toscanos besonders Engagement in Form von > Schulausstellungen.

Ausstellung in einem Schulhof in Speyer; Quelle: www.luigi-toscano.com/bildung

Dazu heißt es auf seiner Homepage:

Im Rahmen des Bildungsprogramms können Schulen eine Auswahl der überlebensgroßen Porträts von Holocaustüberlebenden für einen begrenzten Zeitraum auf dem eigenen Gelände ausstellen.

Diese Schulhofausstellung bietet allen Schüler:innen die Möglichkeit, sich dem Thema anzunähern – innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Die Jugendlichen sind eingeladen, sich aktiv zu beteiligen, Ideen einzubringen und mit der Unterstützung des GEGEN DAS VERGESSEN-Teams eigene Formate zu entwickeln. Sie können beispielsweise Podcasts, Filmtrailer oder offizielle Ausstellungseröffnungen organisieren und produzieren. Ein Bildband und der Dokumentationsfilm begleiten die Schulhofausstellung. 

Bei Interesse Anfragen an > education@luigi-toscano.com

www.luigi-toscano.com/bildung

Längst hat sein Projekt Eigendynamik entwickelt: Die Beiträge in den Medien häufen sich, die Ehrungen ebenfalls: Im Frühjahr 2021 wurde Toscano als erster Fotograf zum UNESCO Artist for Peace ernannt, von Kamala Harris geehrt, an die altehrwürdige Harvard-University als Redner eingeladen und noch allerlei Ehrungen mehr. Der absolute Ritterschlag erfolgte nun im September 2021, mit einem Schreiben des Bundespräsidenten. Nachstehend alle Details in einer Presse-Mitteilung:

Luigi Toscano wird am 01.Oktober 2021 mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
zum Thema ‚Kultur ist Lebenselixier für alle‘ in Berlin geehrt.

Letzte Woche erreichte den Filmemacher und Fotografen Toscano die überraschende Nachricht, dass er vom Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland für das Verdienstkreuz auserkoren wurde.

Geehrt wird er für sein internationales Fotoprojekt
GEGEN DAS VERGESSEN,
das er nun seit nunmehr sieben Jahren verfolgt.

GEGEN DAS VERGESSEN ist das multimediale Erinnerungsprojekt des deutsch-italienischen Fotografen und Filmemachers Luigi Toscano. Seit 2014 trifft und porträtiert er dafür weltweit Überlebende der NS-Verfolgung. Mehr als 400 dieser Begegnungen gab es bereits in Deutschland, den USA, Österreich, der Ukraine, Russland, Israel, den Niederlanden und Weißrussland. Und noch werden es mehr, doch die Jahre sind gezählt: In nicht allzu ferner Zukunft wird es keine lebenden Zeitzeugen mehr geben.

Fast 75 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager ist die Distanz zu den Verbrechen im Nationalsozialismus weitergewachsen. „Was habe ich damit zu tun? Ich war damals ja noch nicht mal geboren! Warum müssen wir immer wieder in die Vergangenheit schauen? Irgendwann ist doch mal gut!“

Auch Toscano befasste sich selbst mit diesen Fragen und verarbeitete diese unter anderem in diesem Projekt. Luigi Toscano kämpft mit GEGEN DAS VERGESSEN gegen jede Form von Ausgrenzung und für Offenheit, Toleranz und Demokratie. Er gibt der Erinnerungskultur mit seinem Projekt ein menschliches und emotionales Gesicht. Dadurch überwindet er die historische Distanz zu den NS-Verbrechen und zeigt: Damals wie heute gibt es viel mehr Gemeinsamkeiten, die uns verbinden, als Unterschiede, die uns trennen.

Seine überlebensgroßen Porträts präsentiert Luigi Toscano an zentralen Orten, die für alle
zugänglich sind – Parks, Plätze oder Häuserfassaden. Auf diese Weise finden sie einen direkten Zugang in den Alltag und das Bewusstsein der Menschen – unabhängig von Herkunft, Alter oder Bildung. Diesem demokratischen Anspruch bleibt GEGEN DAS VERGESSEN bereits seit vielen Jahren treu.

Am 01. Oktober 2021 wird Luigi Toscano vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue für seine herausragende Erinnerungsarbeit mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. (…)

Pressefoto von Luigi Toscano

Diese Ehrung kommt wirklich total überraschend für mich. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mein Projekt GEGEN DAS VERGESSEN auf diese Weise honoriert und wertgeschätzt wird – das ist nicht selbstverständlich! Es bestätigt mich auch in meinem Tun weiterzumachen.

KULTUR selbst ist das Gestern, das Heute und das Morgen. Sie ist dynamisch und saugt alles in sich auf. Mein Bestreben ist es, dass Fehler von gestern nicht heute und morgen wiederholt werden.

Ich danke allen, die den Mut hatten und hoffentlich noch haben werden, mir ihre Geschichten zu erzählen und ihr Gesicht zu zeigen.

Statement von Luigi Toscano zur Nachricht seiner Ehrung durch den Bundespräsidenten;
Quelle: Presse-Meldung vom 17.9.2021

Kontakt: Karolina Jarecki
k.jarecki@jarecki-pr.de
Gegen das Vergessen: www.luigi-toscano.com


Mein ganz persönlicher Epilog:

Luigi Toscano mit Außenminister Heiko Maas, rechts das Portrait von Peter Höllenreiner, der als Sinto den Holocaust überlebte; Quelle: Luigi Toscano auf Twitter

Zwei Jahre nach seinem Tod ist Peter Höllenreiner (Portrait rechts) zurückgekehrt, unter anderem nach einem Abstecher zur Berliner Politprominenz und in genau der Funktion, die ihm am Ende seines Lebens so wichtig geworden war und in der er nun, über seinen Tod hinaus, nachhaltig weiterwirkt: der als mahnender Zeitzeuge; eine tröstliche Fügung, die Luigi Toscano zu verdanken ist. Darüber bin nicht nur ich, sondern sind alle froh – da bin ich sicher – die Peter gekannt, geschätzt und geliebt haben.


Trailer „Gegen das Vergessen“ von 2015
TV-Feature von 2019



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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.wordpress.com

3 Kommentare zu „Bundesverdienstkreuz für Luigi Toscano und sein Langzeitprojekt „‚Gegen das Vergessen“: Eine weltweite Wanderausstellung von Fotoportraits Holocaust-Überlebender, darunter, vielen unvergessen, der Sinto Peter Höllenreiner

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