„Ein großer und aufrichtiger Mann ist von uns gegangen!“ Nachruf auf Sinto-Zeitzeuge Peter Höllenreiner, 17.3.1939 – 28.7.2020, von Alexander Diepold / Madhouse KULTUR

Seit 2015 besuchte Peter uns regelmäßig bei Madhouse, dem Familienberatungs- und Kulturzentrum für Sinti & Roma in München, um das Vermächtnis seines Bruders Hugo Höllenreiner fortzusetzen:


Peter Höllenreiner im August 2019, in Auschwitz, zum 75. Jahrestag der „Blutnacht“, dem Massaker an den Sinti & Roma im „Zigeunerlager“ des KZs.

Aufklärung in der Öffentlichkeit hinsichtlich aller Übergriffe gegenüber den Sinti & Roma und die versöhnliche Hand, um an alle zu appellieren, gemeinsam darauf zu achten, dass sich der Nationalsozialismus nicht wiederholt.

Familie Höllenreiner 1942; auf dem Schoß seiner Mutter der 3jährige Peter

Peter war gerade vier Jahre alt, als er zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz Birkenau verbracht wurde. Er hatte die KZ-Nummer: Z 3531. Jener 8. März 1943 war der Beginn einer zweijährigen Schreckenszeit, zwei Jahre des willkürlichen Mordens von Menschen, gleich ob sie alt oder jung waren. Zwei Jahre, in denen ihm und seiner ganzen Familie Würde und Achtung genommen wurden. Die Tötungsmaschinerie in Auschwitz-Birkenau traf jeden. Familien wurden allein wegen ihrer Abstammung als Sinti vergast, verbrannt, gedemütigt, angespuckt und gequält.

Bis vor fünf Wochen, als er uns zuletzt im MADHOUSE besuchte, war es ihm wichtig, dass die ganze Welt von dem Unrecht erfährt, das Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und nach der Befreiung Deutschlands bis heute durchleiden mussten. Immer wieder prangerte er an, dass in deutschen Medien seitenweise über die Täter berichtet, das Leid der Opfer oft nur in einem winzigen Nebentext erwähnt würde. Peter betonte in seinen Zeitzeugenberichten, dass die Rettung im Mai 1945 keine Kapitulation Deutschlands, sondern die Befreiung aus einer Gewaltherrschaft war. Als Erwachsener wollte er die Zeit vergessen. Aus diesem Grund ließ er sich sogar die KZ-Nummer entfernen, um seine Identität zu verschleiern. Er hoffte so auf eine chancenreichere Zukunft. Aber die systematische Ausgrenzung und Ungleichbehandlung gegenüber Sinti und Roma ging weiter, bis zum heutigen Tag.

Bis zuletzt suchte Peter Höllenreiner das Gespräch, um als Zeitzeuge von dem Schrecklichen zu berichten, dass ihm als kleinem Jungen widerfahren war und sich niemals wiederholen dürfe!

Peter erduldete jahrzehntelange Verfolgung durch Strafbehörden, Misshandlungen durch Lehrkräfte und eine immense Diskriminierung durch Richter. Er konstatierte, dass er und viele Überlebende von den Behörden und Amtsärzten um ihre Wiedergutmachungen betrogen wurden. Das Ergebnis, das Peter für sich und sein Leben verinnerlichte: Als Sinto geboren zu werden, hieß gleichzeitig, genetisch bedingt kriminell zu sein. Sinti waren schon verurteilt aufgrund ihrer ethnischen Herkunft. Es war an der Tagesordnung, von der Polizei durchsucht oder verdächtigt zu werden. Seine Abstammung als Sinto reichte aus, rechtswidrige Gewalt gegen ihn auszuüben – und nicht nur gegen ihn, sondern gegen sämtliche Sinti und Roma. Mit diesem Bewusstsein und schwer traumatisiert verfolgte er den Plan, seine Geschichte in die Öffentlichkeit zu bringen, seine tiefen Wunden und Verletzungen offen zu legen, mit außergewöhnlichem Mut seine eigene Passion zu repräsentieren, mit Entschlossenheit gegen Rassismus einzutreten, in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden.

13.3.2018, Gedenkstunde im Münchner Rathaus: v. li.: Alexander Diepold, Peter Hoellenreiner, Erich-Schneeberger (bayer. Landesvorsitzender deutscher Sinti & Roma), Romani Rose (Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma) , Christine Strobl, SPD, damalige Bürgermeisterin

Damit ermutigte er junge Menschen, ebenfalls für ihre Rechte einzustehen. Zudem hat er sich unbewusst, durch die Enthüllung seiner Lebensgeschichte sich selbst einen spirituellen Raum zur Befreiung vom eigenen Leid geschaffen. In der Autobiografie: „Der Junge aus Auschwitz“ beschreibt Anna-Maria Willer diese Lebensgeschichte. Dieses Buch ist aussagekräftig, ist eine Anklage gegen Unmenschlichkeit und eine Hoffnung für Menschen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. In unserer Einrichtung hatte er Freunde gefunden, zu mir ein besonderes Verhältnis…

Peter Höllenreiner hält eine Rede als Zeitzeuge,
Alexander Diepold steht ihm zur Seite

Er bot jede nur mögliche Unterstützung an, um durch seine Vita ein Vermächtnis für alle Menschen zu hinterlassen, mit der dringenden Botschaft, in einen Dialog einzutreten, bezüglich rechtspopulistischer Strömungen und Rassismus und gegen selbige anzukämpfen sowie die Erinnerung an unsere Menschen, den Sinti & Roma, zu bewahren und deren Erinnerungsorte zu heiligen Orten zu erklären.

2018 in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau,
Foto: Roberto Paskowski

Heute ist ein großer, aufrichtiger, ehrlicher und mutiger Mann gegangen, der bereit war, ein Unbequemer zu sein, der niemandem gegenüber ein Blatt vor den Mund nahm, um sich für gleichberechtigte Teilhabe einzusetzen, vor allem für umfassende Bildungschancen für unsere Leute. Und immer war da jene reichende Hand, jedem Menschen gegenüber, unabhängig von der Rasse, von der Religion, von der Abstammung, von der Hautfarbe, vom Geschlecht oder von ungewöhnlichen Lebensentwürfen. Er hielt an Tugenden fest. Arbeit, Ehre, Loyalität, Zuverlässigkeit, Menschlichkeit, Respekt gegenüber dem Leben, Ehrlichkeit, tiefe Freundschaften, Redlichkeit – er war ein Mann von Stolz und Achtung.

Wir, das Madhouse-Team, haben Peter kennenlernen dürfen und wollen mit diesem Nachruf unsere höchste Wertschätzung zum Ausdruck bringen.

Wir danken ihm von Herzen für seine Lebensgeschichte, für seine Liebenswürdigkeit, seine große Wertschätzung unserer Arbeit gegenüber und ich ihm ganz besonders für seine väterliche Freundschaft.

(Nachruf von Alexander Diepold im July 2020)


Titelbild (mit freundlicher Genehmigung von Luigi Toscano)
Ein Portrait von Peter Höllenreiner, f
otografiert von Luigi Toscano (mit dem damaligen Außenminister Heiko Maas) für das berühmte Fotogedenk-Projekt „Wider dem Vergessen!“

Der Junge aus Auschwitz von Maria Anna Willer

Peter Höllenreiner überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. Der Hölle entkommen, kommt er 1945 als Sechsjähriger zurück in seine Geburtsstadt München. Seine Schulzeit beginnt und die Welt begegnet ihm, als ob nichts gewesen wäre. “Hintere in die letzte Bank!”, heißt es in der Schule. Die Ausgrenzung geht weiter. Peter Höllenreiner und seine Familie waren der nationalsozialistischen Verfolgung als sogenannte “Zigeuner” ausgesetzt gewesen. Trotz Demokratie, neuer Regierungsform und der Erklärung von Menschenrechten – die alten Vorurteile blieben. Und Peter lebt im Land der einstigen Täter, es ist seine Heimat.

Rund 70 Jahre nach Kriegsende und seiner Befreiung aus einer Kindheit unter ständiger Lebensgefahr schaut Peter Höllenreiner zurück. Der Münchner erzählt erstmals seine Lebensgeschichte. Zwei Jahre lang begleitet ihn die Biografin Maria Anna Willer. Sie gibt seine Erzählungen auszugsweise wieder und recherchiert in Archiven. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte tut sich auf. In den aktuellen Ereignissen offenbart sich der Blick des Überlebenden des Holocaust auf unsere gegenwärtige Gesellschaft.

Die Biografin Maria Anna Willer gibt sich in der Begegnung mit Peter Höllenreiner zu erkennen. Sie gibt wieder, wie sie den Zeitzeugen erlebt, heute im Alter, wo Erinnerungen wiederkehren. Authentischer kann ein Buch nicht sein. Willer schreibt in knappen Sätzen, sachlich, dennoch oder gerade deshalb tief berührend.

ISBN: 9783745053517

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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