Der Himmel spielte mit, an diesem Mittag auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau – mit gutem Grund 🙂 Die Sinti und Roma der Freien Christen Gemeinde Jeschua München hatten, gemeinsam mit Marcella Reinhardt, der Vorsitzenden des Regionalverbands Deutscher Sinti & Roma/Schwaben und Björn Mensing, dem Pfarrer der Versöhnungskirche Dachau zu einem Gedenkgottesdienst geladen, aus Anlass des 78. Jahrestags der Befreiung des KZ-Dachau, auf den Tag genau am 29.4.1945, am späten Nachmittag.

Die Sonne hatte endlich einmal die derzeit beständige Wolkendecke durchbrochen und tauchte den Vorhof der Versöhnungskirche in einen warmen Goldton. Immer mehr Stühle und Bänke wurden herbeigeschafft, um dem nicht abreißenden Strom der GottesdienstbesucherInnen eine Sitzgelegenheit zu bieten. Eine heutzutage ansonsten in Kirchen eher selten zu beobachtende Art von Geschäftigkeit. Auch fiel mir das junge Alter vieler Anwesenden auf, was daran liegt, dass bei den Sinti sehr viele Unternehmungen im Familienverband stattfinden, so auch die Ausübung des Glaubens.
Als im Inneren der Kirche der Chor der Jeschua-Gemeinde begann, sich einzusingen, bereitete sich eine freudige Erwartungsstimmung aus, obwohl – oder gerade weil man sich unter einander größtenteils gut kannte.


Diese Atmosphäre der Zusammengehörigkeit bei den Sinti und Roma habe ich mit den Jahren zunehmend zu schätzen gelernt, zumal sie mit einer Spontanität und Herzlichkeit einhergeht, die mich in das Italien meiner Kindheit und Jugend zurückversetzt und mich zeitweilig sogar ein wenig vergessen lässt, wie weit entfernt meine eigene Familie ist …
Viele der Anwesenden gehören der Freien Christen Gemeinde Jeschua München an, die sich jeden Samstag um 18h zum Gottesdienst in der Münchner Hanauer Straße 81 trifft.
Dort hatte ich bereits vor einigen Jahren selbst an einem Gedenkgottesdienst teilgenommen. Die tiefe, bedingungslose Gläubigkeit, die ich dort spürte, hatte mich damals bewegt und ist mir seitdem bei vielen Sinti & Roma begegnet, obgleich diese Volksgruppe allen Grund gehabt hätte, sich vom Glauben abzuwenden, nach Jahrhunderten der Ausgrenzung, nach Versklavung und Holocaust sowie schließlich den fortgesetzten Repressalien in der Nachkriegszeit.
Bedenkt man das Versagen beider Kirchen gegenüber den Sinti und Roma im Holocaust und deren oft süffisantes Verhalten vor und nach dem Dritten Reich, verwundert es allerdings nicht, dass viele inzwischen freikirchlich praktizieren.
Im Dritten Reich haben offizielle Vertreter beider Kirchen entweder passiv versagt, indem sie beispielsweise auf Hilfsgesuche nicht reagierten oder sogar aktiv die Namen von Sinti-Kirchenmitglieder an die Gestapo weiterleiteten! Romani Rose, der Mitbegründer, langjährige und bis heute Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti & Roma berichtet im Zusammenhang eindrucksvoll bei Markus Lanz vom Versagen Kardinal Faulhabers als Christ, Mann der Kirche und Mensch (im Video ab 6:06) >
Aber wider solcherart düsterer Vergangenheit fuhr die Gedenkveranstaltung gleich eine ganze Reihe Lichtblicke auf, nicht zuletzt die beseelenden, weil sehr persönlich und daher authentisch gehaltenen Beiträge. Den Anfang machte Mitinitiatorin Marcella Reinhardt, die zu einer Schweigeminute aufrief
… für die 41.500 Menschen, die hier (im KZ Dachau) nicht überlebt haben …
Marcella Reinhardt, Vorsitzende des Regionalverbands Deutscher Sinti & Roma/Schwaben e.V. während ihrer Ansprache beim Gedenkgottesdienst am 29.4.2023 in der Versöhnungskirche/KZ-Gedenkstätte Dachau
und auf die nachhaltigen Folgen des Holocaust auch für die nachfolgenden Generationen hinwies, ein Aspekt, der von der Mehrheitsgesellschaft zumeist nicht bedacht wird:
Wir, die wir im Schatten des Holocaust aufgewachsen sind …

Im Eingangsbereich der Versöhnungskirche befindet sich eine mehrsprachige Schrifttafel, deren Inschrift, in Anlehnung an Psalm 52,2/Lutherbibel, lautet:
… unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht,
> MEHR
(bis das Unglück vorübergehe …)

Dieser Vers spiegelte sich in einer Begebenheit wider, die Björn Mensing, Pfarrer und Historiker in der Versöhnungskirche, in knappen aber leidenschaftlichen Worten schilderte, als Sprachrohr für einen Überlebenden des KZ-Dachau, der im 99. Lebensjahr! den beschwerlich langen Weg aus den USA zu diesen Gedenkfeierlichkeiten auf sich genommen hatte.
Geboren als Nikolai Choprenko im heute wieder schwer umkämpften Donezk in der Ukraine, wurde er 1942 als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. In Folge verdächtigte man ihn der Sabotage in einer Munitionsfabrik und pferchte ihn mit 30.000 weiteren Gegangenen im KZ-Dachau ein.
Kurz vor Kriegsende schickte man ihn auf einen der berüchtigten Todesmärsche. In letzter Minute bewahrte ihn die Befreiung durch die Alliierten vor der Erschießung. Auf seinen Leidensweg im Holocaust folgten drei Jahre Sanatorium, dann eine Anstellung als Fahrer für die US-Army. In den USA fand er schließlich eine neue Heimat und änderte seinen Namen in Nick … HOPE – nomen est omen!

Leider ist die Bildqualität mäßig, aber ich konnte den alten Herrn schlecht bitten, sich extra umzusetzen. Und die Lebensfreude und familiäre Harmonie ist auch so in allen drei Gesichtern gut erkennbar!
Begleitet wurden Nick Hope, sein Sohn George Hope und seine Enkelin Janessa Shafer von Jed Stuehmeyer, dem Sohn eines der alliierten Soldaten, die Nick Hope einst gerettet hatten. Dieser trug auf dem Gedenkgottesdienst, seinem Vater zu Ehren, dessen Veteranenuniform.

Parallel zu Nicks Rettung trafen die Alliierten am 29.4.1945 auch im KZ Dachau ein, was sich rasch unter den überlebenden Lagerinsassen herumsprach, die sich auf dem Appellplatz einfanden. Dort rief spontan ein amerikanischer Soldat sinngemäß: „Lasst uns beten, Brüder und Schwestern! Gott hat sein Volk ein weiteres Mal aus Ägypten befreit!“
Den Hauptteil des Gottesdienstes bestritt Pastor Karl Schmidt – Boulanger der Freien Christen Gemeinde Jeschua München.
Er erinnerte daran, dass mit Dachau das erste Konzentrationslager überhaupt errichtet worden war und als Blaupause für weitere Lager und die Ausbildung zukünftiger KZ-Kräfte gedient hatte und kontrastierte die düstere Historie, indem er Jesus Christus beschwor, als – „gerade an diesem finsteren Ort“ –
„... Antwort für unser Volk
und für alle anderen Völker, die hier gelitten haben!“Pastor Karl Schmidt – Boulanger während des Gedenkgottesdienstes
Er sprach von Jesus Christus als den, der die Seele wieder heilt – Ein schöner, für mich sehr nachvollziehbarer und somit tröstlicher Gedanke wie auch „hast Du Jesus im Herzen, hast Du alles – und die Kraft zu vergeben!“

Pastor Karl Schmidt und Pfarrer Björn Mensing (re)
Bereits beim Gottesdienst vor einigen Jahren hatte der Aufruf zu Vergebung im Mittelpunkt der Predigt Boulangers gestanden und für mich eine Momentaufnahme gelebten Christentums dargestellt, in Anbetracht des historischen Leidenswegs dieser Volksgruppe …
Freikirchliche Gottesdienste bieten dem Musikteil besonders viel Raum, was so Musik affinen Volksgruppen wie den Sinti und Roma entgegenkommt, die auch diesmal in ihren Gesängen, auf Deutsch und Romanes, Gott gesanglich ihre christliche Inbrunst entgegen brachten.

Erinnert wurde auch an ein weiteres Ereignis historischer Tragweite, das sich an diesem Ort abgespielt hatte: Der > Hungerstreik der Sinti & Roma Ostern 1980 im Gemeindesaal der Versöhnungskirche, an dem sich, gemeinsam mit elf Sinti, auch meine Freundin Uta Horstmann aus Solidarität beteiligt hatte. Dieser Streik war seinerzeit nur möglich geworden, weil die ELKB die Versöhnungskirche als Übernachtungsquartier zur Verfügung stellte, entgegen dem Willen des Freistaats Bayern, der den Streik hatte verbieten wollen.

Uta Horstmann, in Begleitung von Gaby dos Santos und Alexander Diepold wieder in jenem Gemeinderaum der Dachauer Versöhnungskirche, in dem der Hungerstreik der Sinti und Roma einst stattfand; Foto: Björn Mensing
Uta ist keine Sintezza, war aber von 1974 bis 2012 im Sozialreferat der Landeshauptstadt München für die Belange der Sinti und Roma zuständig, bekam so hautnah mit, wie unterpriviligiert ihre Schützlinge gegenüber der Mehrheitsgesellschaft noch immer lebten und widmete ihnen daher ihr Berufsleben. Für ihr Engagement wurde sie nicht nur am Ende ihrer beruflichen Laufbahn mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; von der Community der Sinti und Roma wird sie bis heute geradezu verehrt und bei all deren Veranstaltungen, an denen sie teilnimmt, namentlich erwähnt und auf das Herzlichste begrüßt, so auch diesmal. Wirklich eine Lebensleistung!
Dass inzwischen viele ihrer einstigen Betätigungsfelder von Alexander Diepolds (rechts auf obigem Foto) Familienberatungsstätte „Madhouse München“ abgedeckt würden, sei für sie ein beruhigendes Gefühl, äußerte sie mir gegenüber wiederholt. Mir ist Uta inzwischen eine liebe Freundin und – auf Grund ihrer Einblicke in die Lebensumstände und Kultur der Sinti und Roma – auch eine unverzichtbare Beraterin bei der Produktion meiner aktuellen Trilogie „Sinti und Roma – Elegien einer deutschen Minderheit“ geworden.

Apropos „Trilogie“: Sehr gefreut habe ich mich, dass ganz spontan Sinti, die das erste Historical der Trilogie, Nächster Halt Auschwitz, im März 2023 im Alten Rathaus gesehen hatten, mit spontanem „Hallo“ auf mich zukamen, wie die nette Dame auf dem Foto links mit Uta.
Ganz zum Schluss wechselten Uta, Alexander und ich noch ein paar Worte mit Pfarrer Björn Mensing zu den Gottesdiensten in der Versöhnungskirche: Von den regelmäßigen Sonntagsgottesdiensten sei man zwar inzwischen abgekommen, biete dafür aber inzwischen unter der Woche und mehrsprachig für die BesucherInnen der Gedenkstelle Gottesdienste an. Solcherart spirituelle Erbauung nach einem KZ-Rundgang durch die Untiefen des menschlichen Wesens macht ganz sicher Sinn …

vor dem Altar der Versöhnungskirche. Sie gehört zur Gesangsgruppe der Jeschua-Gemeinde
www.versoehnungskirche-dachau.de
Uta Horstmann vor dem oberen Teil der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau
Zwei Ansichten des Geländes der KZ-Gedenkstätte Dachau


Mitschnitt des Gedenkgottesdienstes >
Quelle: Freie Christen Gemeinde Jeschua München > www.fcgj.de