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Betrachtungen zu „Bücher, die uns bewegten“, einer Anthologie für und von Bücher-Fans, herausgegeben von Willi Bredemeier im Simon-Verlag

Mein ganzes Leben lang hat mich die obige Bücherwand, inklusive Inhalt, begleitet. 1965 erwarb sie mein Großvater in Berlin zusammen mit einem Bertelsmann Lese-Abo. Mit diesem Kauf eröffnete er mir schon bald eine vielfältige, wenn auch nicht immer altersgemäße Parallelwelt, die mir in den Ferien Zuflucht bot: Die der Bücher!

Tatsächlich noch im Angebot:
Mein erstes Leseerlebnis mit Originalcover

Die Basis dazu hatten meine Eltern dankenswerterweise bereits gelegt, als ich sieben Jahre alt war, indem sie mir eine Ausgabe der Don Quichotte-Nacherzählung von Erich Kästner schenkten, kindgerecht formuliert und reich bebildert. Zunächst unter Protest, doch zunehmend freiwillig folgte ich nun täglich den Abenteuern dieses letzten Ritters der traurigen Gestalt, las zunächst unter Aufsicht meiner Eltern laut vor, doch recht bald für mich alleine.

Am Ende empfand ich den Antihelden aus La Mancha als mir derart nah, dass ich über seinen, für mich gänzlich unerwarteten und dazu auch noch einsamen Tod bittere Tränen vergoss.

Die Tränen trockneten dann doch noch und der Eroberung von Großvaters Berliner Bücherwand bei nächstmöglicher Gelegenheit stand nichts mehr im Weg. Passend als literarischer Einstieg erwies sich Wilhelm Buschs Fromme Helene, die ich als ein herrlich verruchtes Frauenzimmer empfand, das keiner Versuchung zu widerstehen vermochte und sich schließlich im Suff selbst abfackelte. Im vorpubertären Alter mag man es halt eher drastisch 😉

Einzelszene aus Die fromme Helene
„Es ist ein Brauch von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör …“

Die Story hatte der Meister mit reichlich plakativen Illustrationen zum Schicksal dieses gefallenen Mädchens versehen, die mir zusätzlich sensationslüsternes Kribbeln vom Feinsten bescherten. Von nun an erschien mir ein leicht sündiger Lebenswandel als nicht unspannend und trug sicher dazu bei, die Weichen für das eine oder andere Experiment in meiner späteren Vita zu stellen > Unmögliche Mädchen 😉

In jeden Fall war ich seit meiner Begegnung mit Cervantes respektive Kästner definitiv angefixt, was das Lesen betraf. Beim Stöbern in Familienalben habe ich festgestellt, das es zwischen 1966 und 1969 keine Weihnachtsfotos gibt, auf denen mich nicht wenigstens eines entrückt beim Lesen zeigt:

Es war auch ein Buch, besser gesagt ein Märchen aus einem Buch, das mich erstmals selbst zu Papier und Tinte greifen lies: Hans Christian Andersens Geschichte von der Kleinen Meerjungfrau. Was diesem unschuldigen Wesen widerfuhr, empfand ich als derart unfair, dass ich kurzerhand das schreiend ungerechte Ende in ein gerechtes umschrieb, in dem die kleine Meerjungfrau ihre Sprache wiederfand, sich dem Prinzen als seine tatsächliche Lebensretterin präsentierte und von ihm geheiratet wurde. Und wenn sie nicht gestorben sind … etc.

Alle, die mir bis hierhin gefolgt sind, haben möglicherweise parallel zur Lektüre schon die eigene Vergangenheit durchforstet und sich überlegt, welches Buch welche Bedeutung für die eigene Entwicklung und Biografie gespielt haben mag. Und genau hier setzt die Anthologie „Bücher, die uns bewegen“ an, weil es nicht nur Ihnen und Euch so geht – oder eben mir, sondern allen gewohnheitsmäßigen Leserinnen und Lesern. Genau dieses Prinzip führte auch zur ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte eines ebenso ungewöhnlichen Buches. Elisabeth Simon (Simon Verlag für Bibliothekswissen) und Gerda Bredemeier, Frau des Herausgebers erinnern sich im Vorwort, aus dem ich ausschnittsweise nachstehend zitiere:

Der Vorläufer dieses Buches entstand, als Erda Lapp, die Leiterin der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum, und Willi Bredemeier (…) auf diskursive Abwege gerieten. Am Ende des Gespräches stand der Beschluss, eine Veranstaltung unter dem Titel „Das Buch, das mein Leben veränderte“ durchzuführen, auf der Buchenthusiasten über ihre Lesererlebnisse berichteten. Diese Veranstaltung soll immer noch stattfinden, aber sie musste wegen Corona bis auf Weiteres verschoben werden. (…)

Obgleich ein neuer Termin für die Veranstaltung nicht in Sicht war, arbeiteten die meisten der für Referate vorgesehenen Autorinnen und Autoren ihre Texte aus und schickten sie uns in schriftlicher Form. Diese fanden wir so schön und mit Blick auf mögliche neue Beiträge derart vielversprechend, dass wir weitere Texte sammelten. Am Ende stand dieses Buch, das nunmehr den Titel trägt: Bücher, die uns bewegten.

Darin schildern 41 Bücherfreunde, die zugleich Autoren, also sozusagen „Leserautoren“, sind, wie sie mit einem oder mit mehreren Büchern interagierten, wie ein Buch besonders wichtig für sie wurde, wie sie in eine andere Welt aufbrachen, eintauchten, versanken, sich gefangen nehmen ließen und verändert in diese Welt zurückkehrten.

Walter Benjamin: „ …diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert“ – Roland Jerzewski, Autor und Politologe, schreibt über das Buch seines Lebens (Gastbeitrag) > LINK

Und dies vielleicht immer wieder und vielleicht unentwegt auf der Lauer nach einem Lektüre-Moment, der „wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert

(Walter Benjamin zitiert von Dr. Roland Jerzewski)

“ (…) verbunden mit immer weiteren Entdeckungen, so dass es in dieser anderen Welt immer noch Neues und Wertvolles, ja Transzendentes zu entdecken gab.“ (…)

Die Altersgruppe der Jungen und häufig noch besonders Suchenden durfte nicht fehlen. Daher arbeiteten wir bei der Findung von „Leserautoren“ mit „Schreibland NRW“ in Minden und der „Schreibwerkstatt Marzahn“ zusammen – mit großem Erfolg. Wie wir erwartet hatten, nahmen die Autoren vor allem auf Romane Bezug, aber eine ganze Reihe von ihnen ließen sich auch durch Sachbücher stark beeinflussen.

Kinderbücher von „Pippi Langstrumpf“ bis „Harry Potter“ wurden teilweise erst als Erwachsene für sich entdeckt, aber natürlich auch von Kindern verschlungen.

Martina Hellmich vernahm als Botschaft von Pippi Langstrumpf: „Das habe ich noch nie gemacht, also kann ich es“, und folgerte: „Diese optimistische, neugierige Einstellung voller Tatendrang und Mut hat mich schon damals begeistert – und meine Mutter und Großmutter manchmal in den Wahnsinn getrieben. Im Berufsleben war es nicht anders, nur dass es dann Vorgesetzte waren, die sich die Haare rauften“.

In einem Fall verband die Lektüre von Harry Potter und das anschließende Sehen der Verfilmungen („Harry Potter“) drei Generationen einer Familie (Barbara Schulz-Bredemeier – Seite 69). Rawlings Harry-Potter-Bücher waren im Übrigen die einzigen Werke, die von zwei unserer Autoren als Buch ihres Lebens gewählt wurden.

Die ausgewählten Romane und weiteren Bücher decken eine weite Spanne ab und reichen von früheren Pflichtlektüren wie „(Ritter) Erec“ von Hartmann von Aue und „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe bis zur aktuellen Fantasy- und Horror-Literatur.

Nun genug der Klassifikationen. Oder um mit unserem Herausgeber zu reden, als er über seine Lektüre über den Philosophen „Spinoza“ in Will und Ariel Durant in „The Story of Civilisation“ (Band VII: „The Age of Louis XIV“) schrieb:

Ich las das Kapitel Spinoza mehrere Male und war jedes Mal von Spinozas Überlegungen fasziniert. Aber wenn der nächste Morgen herangerückt war, hatte ich alle Klassifikationen vergessen“ .

Willi Bredemeier, Buch Seite 98

Herausgeber Willi Bredemeier wuchs in einer Zeit auf, als Bücher knapp waren und Lesen nicht in allen Schichten geschätzt wurde, so dass er um jeden Lesestoff kämpfen musste. Jedenfalls nahm sein bäuerliches und proletarisches Umfeld nicht unfreundlich, aber doch staunend und mehr als eine Spur befremdet wahr, wie unser späterer Herausgeber als Kind Hexengeschichten aus einem naheliegenden Waldstück erzählte. Das Waldstück hatte er gelegentlich mit seinem Hund aufgesucht. Einmal riefen die Tante und Onkel, bei denen das Kind aufwuchs, sogar einen Onkel aus Hamburg zu Hilfe. Der nahm den Jungen auf den Schoß und sagte: „Ich habe gehört, dass du gerne liest.“ „Ja“, sagte das Kind. „Ja, weißt du nicht, dass man vom vielen Lesen verrückt wird?“ fragte der Onkel. Der Junge rutschte vom Schoß herunter, rief „Dat glöwe ick nich“ und rannte davon. Später wurde er gesehen, wie er mittlerweile des Hochdeutschen mächtig und den SPIEGEL vor Augen an der größten Zeche Europas („Gneisenau“) in Dortmund-Derne vorbeischritt. So musste sich denn sein Ruf verbreiten. Als eine Tante aus Sachsen ins Ruhrgebiet zu Besuch kam und im Omnibus saß, sagte sie zu ihrer Tochter: „Guck mal, das muss der Willi sein.“ „Wieso?“ fragte die Tochter. „Ja, siehst du nicht, dass er liest?“ fragte die Mutter.

Denn ist es nicht das, was die Literatur für uns bewirkt?
Sie schenkt uns ein doppeltes und vielleicht sogar ein dreifaches Leben.“

Willi Bredemeier, Buch Seite 98

Bücher, die uns bewegten

Bücher, die uns bewegten

Willi Bredemeier

2021 –

142 Seiten – Softcover

ISBN 978-3-945610-65-7

14,90 €

BESTELL-LINK

Simon Verlag für Bibliothekswissen

Besonders lesenswert fand ich persönlich in diesem Buch:

„Trobadora Beatriz“ von Irmtraud Morgner:
Die Französin Martine Demay über das gesamtdeutsche Kultbuch der Frauenbewegung in den 1970er Jahren


Und welches Buch spielt in Deiner / Ihrer Vita eine herausragende Rolle?

Über Rückmeldungen in der Kommentarzeile
oder via dossantosgaby1@gmail.com

würde ich mich sehr freuen!

Ihre und Eure Gaby dos Santos


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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.wordpress.com

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