In der orthodoxen Osternacht 1981 öffnete der russische Musiker Igor Kondakov für mich den Eisernen Vorhang einen Spalt breit und gab mir erstmals den Blick auf ein Russland frei, das jenseits von Sowjet-Regime, Bolschewismus und Kaltem Krieg lag. Ein Land, das sich über Jahrhunderte mit Kunst und Kultur angereichert und seine ganz eigenen Traditionen entwickelt hatte, unabhängig von den jeweiligen Machtverhältnissen, allein durch seine Menschen. Damals traf man im Westen normalerweise keine „echten Russen“, die ich in meiner Vorstellung irgendwo zwischen dem beindruckend konsequenten Dissidententum eines Alexander Scholschenizyn und der glutäugigen Hollywood-Romantik eines Dr. Schiwago ansiedelte.

Autor Boris Pasternak schmuggelte sein Manuskript ins Ausland und ließ es dort veröffentlichen, obwohl er wusste, dass ihn dies seine Freiheit, wenn nicht sogar sein Leben kosten würde und so kam es dann auch …
Für Igor Kondakov galt weder noch. Er bestach durch sein Piano-Spiel, begleitet am Bass von einem weiteren russischen Igor, womit mir also an einem Abend gleich zwei dieser damals raren Begegnungen mit ehemaligen Sowjetbürgern zuteil wurde. 😉 In den Pausen unterhielten wir uns und tranken so einiges. Die Begegnung ereignete sich im Kleinen Rondell, einer damals angesagten Münchner Jazzbar. Damals hatte ich gerade diese Musikrichtung für mich entdeckt und großes Interesse an allem entwickelt, was damit zusammenhing. Entsprechend drehten sich unsere Gespräche ausschließlich um Jazz. Politik, die Sowjetunion und das offensichtliche Exilantentum der beiden Igors hingegen spielte keine Rolle in unseren Gesprächen. Einige Stunden und Getränke später traf ich dann doch noch auf Russland und zwar nicht auf das Machtpolitische Konstrukt „Sowjetunion“, mit ihrem staatlich verordneten Atheismus, sondern auf die Heimat des russisch-orthodoxen Glaubens. Kondakov lud mich ein, ihn und seinen Musiker-Freund zur Ostermesse zu begleiten.

Hin und wieder fallen westliches und östliches Osterfest auf dasselbe Datum – das nächste Mal 2025 > LINK
Vierzig Jahre später erinnere ich natürlich keine Details mehr, aber der Zauber jener Osternacht in einer orthodoxen Kirche, erfüllt von Kerzenlicht und Gesängen, bleibt unvergessen. Damals erlebte ich eine mystisch-magische Nacht, die noch kein Gedanke an das spätere Verhalten des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. trübte, der sich mehrfach unterstützend zum russischen Angriff auf die Ukraine und zu Putins Politik geäußert hat …

Als ich drei Jahre später dann selbst die Programmplanung für das Kleine Rondell übernahm, dachte ich sofort an Igor Kondakoff. Für den ersten Monat unter meiner Ägide engagierte ich meinen Kumpel Wolfgang Lackerschmid, der sich zwar bereits international einen Namen als Vibraphonist erspielt hatte, aber für ein einmonatiges Block-Engagement gerne auch mal in die Tasten griff. Gleich für den darauffolgenden Monat sollte dann Kondakov übernehmen. Leider stand mein Debut als Kulturschaffende 1984 unter keinem guten Stern. Das gemeinsam mit zwei KollegInnen kommissarisch übernommene Lokal entpuppte sich als derart renovierungsbedürftig, das uns das KVR gleich mal den Laden für einen Monat dicht machte. Jetzt hieß es im Akkord den Pinsel schwingen, worüber ich vollkommen vergaß, Kondakoff abzusagen, bis ich einen Anruf von ihm erhielt, in dem er sich ebenso wütend wie sarkastisch für das famose Engagement bedankte … Nachvollziehbar 😦
Kurz darauf starb die eigentliche Besitzerin des Rondells, das Lokal wurde fortan als „Waschkucherl“ betrieben und ich dachte nur sporadisch und immer in Zusammenhang mit dem orthodoxen Osterfest an meine Begegnung mit Igor & Igor im April 1981.
Mit welcherart musikalischem Schwergewicht ich mich seinerzeit eingelassen hatte, dämmerte mir erst Jahre später, anlässlich einer Soirée von MIR e.V., dem Münchner Verein für kulturelle Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mit Schwerpunkt Russland und Ukraine:
Wenn vom russischen München die Rede ist, muss unbedingt der Jazzpianist Igor Kondakov erwähnt werden, der bei seinen Freunden unter dem Namen „Kandej“ bekannt ist. Vom Ende der 70er Jahre an war er im Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten einer der markantesten Vertreter der russischen Kreise in der bayerischen Hauptstadt.
Das russische München – Geschichten und Erinnerungen von Tatjana Lukina, Vorwort Gerd Ruge
Zum Hommage-Abend für Igor Kondakov und seine Frau, der russlanddeutschen Schauspielerin Milla Wollrath-Kondakowa, hatte MIR e.V. im Veranstaltungssaal eine Schautafel mit Pressestimmen und Fotos des Ehepaares aufgestellt und zudem für den musikalischen Part den Top-Pianisten Leonid Chizhik engagiert.

Fasziniert studierte ich die Exponate, die das bewegte Leben des Exilrussen nachzeichneten:
Geboren wurde Igor Kondakov unmittelbar vor Beginn der Leningrader Blockade der Nazis am 12. August 1941, studierte später am Staatlichen Moskauer Tschaikowski-Konservatorium Klavier und Komposition bei Professor Aram Chatschaturian (dem Schöpfer des weltberühmten „Schwerttanzes“) und reüssierte alsbald als jüngster Orchesterleiter.
Wie es dann in den 1970er und 80er Jahren weiterging, hat Autor und Journalist Thomas Veszelits anschaulich in einem Artikel im AZ-Feuilleton zusammengefasst:

Insgesamt 17 Jahre zeichnete Igor u.a. verantwortlich für die musikalische Untermalung im Mövenpick im Künstlerhaus München am Lenbachplatz. 1991 wurden die Kondakovs Mitglieder des gerade gegründeten Vereins MIR e.V., den Igor auch mit einer ganzen Reihe von Benefiz-Konzerten unterstützte. Mit dessen Präsidentin Tatjana Lukina verband das Ehepaar Kondakov zeitlebens eine enge Freundschaft.
15. Februar 2019: MIR-Gedenkkonzert für Igor & Milla Kondakov


EPILOG meiner orthodoxen Osternacht 1981: 2004 erlitt Igor Kondakov einen Schlaganfall, fiel ins Koma und verstarb 2007, ohne das Bewusstsein jemals wieder erlangt zu haben. Begraben ist er am Lago Maggiore, meiner alten Heimat aus Jugendjahren. So schließen sich Kreise, zumal ich wiederum seit vielen Jahren die Aktivitäten von MIR e.V. mit meinem Blog begleite und dessen Künstlerinnen und Künstlern freundschaftlich verbunden bin, allen voran Präsidentin Tatjana Lukina, – bis heute, dem tragisch überschatteten orthodoxen Ostern 2022.
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