Wie hat man sich eigentlich die typische Kleidung von Sinti vorzustellen ..? Das Publikum im NS-Dokumentationszentrum München wirkte ratlos, als Moderator Alexander Adler uns zu Beginn des theatralen Spaziergangs ‚Schluchten‘ aufforderte, die mitwirkenden Sinti und Roma mit Kleidung respektive Accessoires aus einem Koffer auszustatten.

Die Intro der Performance, beziehungsweise die kollektive Überforderung unter uns ZuschauerInnen führte plastisch vor, wie beschämend wenig wir über unsere „ziganen“ MitbürgerInnen wussten. Beschämend deshalb, weil gerade die Sinti seit hunderten von Jahren unter uns leben und dennoch bis heute mit Unwissen und Vorurteilen zu kämpfen haben. Laut einer aktuellen Erhebung möchte ein hoher Prozentsatz unserer Mehrheitsgesellschaft keine Sinti und Roma in der Nachbarschaft haben; ein rassistischer Vorbehalt, der sich, bedingt durch mangelhaftes Hintergrundwissen, hartnäckig hält. In der Vorstellung zu Vieler sind Sinti & Roma kollektiv diejenigen, die am Straßenrand die Hände aufhalten und generell zu Straftaten neigen.
In Bezug auf das Wissen über unsere „ziganen“ MitbürgerInnen hat sich allzulange die Katze in den Schwanz gebissen: Sinti und Roma werden diskriminiert, weil die Mehrheitsgesellschaft kaum etwas über sie weiß. Andererseits wissen wir mehrheitlich nicht nur aus Desinteresse kaum etwas über Sinti und Roma, sondern auch, weil diese sich oft, aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und beruflicher Benachteiligung, nicht zu erkennen geben. So berichtete Politikerin Marcella Reinhardt im Anschluss an die Darbietung im NS-Dokuzentrum, dass sie sich lange Zeit als Italienerin ausgegeben habe. Inzwischen ist sie Vorsitzende des Regionalverbands Deutscher Sinti und Roma Schwaben.
Auch Kultsängerin Marianne Rosenberg wurde zu Beginn ihrer Karriere vom Vater strikt angewiesen, nichts über ihre Herkunft zu verraten.

Foto: Sven Mandel – CC BY-SA 4.0
So verneint sie verlegen in einer frühen TV-Dokumentation, als ein Journalist sie auf ihren Namen anspricht. Dieser klänge jüdisch. Ob ihre Familie denn als solche in der NS-Zeit verfolgt worden sei … (In Wirklichkeit war er sehr wohl verfolgt und interniert worden, aber … als Sinto!)
Inzwischen engagiert sich insbesondere Marianne Rosenbergs Schwester Petra als leitende Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg.
Für letztere setzt sich aktuell eine Kampagne der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München ein, siehe deren nachstehenden Pressetext:
„Ich bin Münchner*in – Ich bin Sint*iza / Rom*ni“
Eine Aktion der Fachstelle für Demokratie zeigt die Vielfalt der Münchner Sint*izze und Rom*nja und bezieht damit auch Stellung gegen Antiziganismus:
„Ich bin Münchner*in – Ich bin Sint*iza / Rom*ni“ – unter diesem Motto steht eine aktuelle Kampagne der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München. „Ziel der Aktion ist es, die Vielfalt der Münchner Sint*izze und Rom*nja und ihre tiefe Verwurzelung in der Münchner Stadtgesellschaft sichtbar zu machen“, erklärt Miriam Heigl, Leiterin der städtischen Fachstelle für Demokratie.
„Für die Aktion, die seit dem 2. August, dem Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sint*izze und Rom*nja, im Stadtgebiet zu sehen ist, wurden insgesamt acht Personen porträtiert“, so Miriam Heigl.
„Über Sint*izze und Rom*nja gibt es viele Vorurteile, aber kaum Wissen. Mit dieser Kampagne wollen wir noch immer weit verbreitete Klischees aufbrechen. Schon die Vielfalt der Teilnehmer*innen zeigt, wie absurd es ist, Menschen in Schubladen zu pressen. So vielfältig München insgesamt ist, so vielfältig sind auch die individuellen Lebensgeschichten der beteiligten Sint*izze und Rom*nja“
Miriam Heigl, Leiterin der FACHSTELLE FÜR DEMOKRATIE der Landeshauptstadt München
Die Interviews zeigen jedoch auch, wie sehr die historischen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Verfolgung Angehörige der Minderheit prägen und wie alltäglich antiziganistische Diskriminierungserfahrungen bis heute sind.
In der im Juli 2021 vorgestellten, repräsentativen Studie zur vorurteilsmotivierten Kriminalität in der Landeshauptstadt München wurden die in München lebenden Sint*izze und Rom*nja als besonders vulnerable, von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffene Gruppe klassifiziert. Die von der Bundesregierung eingesetzte „Unabhängige Kommission Antiziganismus“ kommt in ihrem jüngst vorgestellten Bericht ebenfalls zu der Erkenntnis, dass eine fortgesetzte Diskriminierung gegenüber Sint*izze und Rom*nja besteht und ein grundlegender Perspektivwechsel in der Gesamtgesellschaft notwendig ist.
„Gerade vor dem Hintergrund der Verfolgung und Ermordung der Sint*izze und Rom*nja im Nationalsozialismus ist es unerträglich, wie massiv Angehörige der Minderheit auch heute noch mit rassistischen Zuschreibungen und mit Diskriminierung zu kämpfen haben. Mit dieser Aktion möchte die Stadt München ein deutliches Zeichen der Solidarität sowie gegen Antiziganismus setzen. (…)
Miriam Heigl, Leiterin der FACHSTELLE FÜR DEMOKRATIE der Landeshauptstadt München
Die Botschaft der Kampagne ist klar: Die Münchner Sint*izze und Rom*nja sind ein fester, vielfältiger und selbstverständlicher Bestandteil der Münchner Stadtgesellschaft!“
Die Motivation zur Teilnahme an der Aktion bringt Johann Rottegger, der im Rahmen der Kampagne porträtiert wird, folgendermaßen zum Ausdruck:
„Diese ganzen Klischees und Vorurteile, die über Sint*izze und Rom*nja herumgeistern, haben doch mit mir und uns überhaupt nichts zu tun. Das möchte ich durch meine Beteiligung an der Aktion zeigen.“
Was verbindet mich mit München?
Johann Rottegger, Münchner und Rom, 67 Jahre, im Innenteil des ihm gewidmeten Flyers
München ist meine Heimatstadt. Meine Urgroßmutter, meine Oma, meine Mutter und ich – wir sind alle in der Maistraße geboren, mitten in der Stadt. Und ich war schon immer ein richtiges Stadtkind. Als ich noch klein war, haben wir mal für drei Jahre auf dem Land gelebt. Das war eine sehr langweilige G’schicht. (…) Ich brauche einfach das Leben in der Stadt, und ich mag die Münchner.
Was zeichnet mich aus?
Die Liebe zur Musik und mein soziales Engagement. Ich bin zwar gelernter Bürokaufmann, aber meine Leidenschaft galt schon immer der Musik. (…) Heute arbeite ich als Musiklehrer für Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen. (…)
Was bedeutet es für mich, Rom zu sein?
Ich bin gerne Rom – und ich bin stolz auf meine Identität. Rom zu sein bedeutet für mich frei zu denken und ein freier Mensch zu sein. Deshalb wollte ich auch schon immer mein eigener Chef sein. Von meinem Vater habe ich sehr viel über die Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus mitbekommen. Aus seiner Familie wurden mehr als 30 Menschen in Mauthausen, Dachau und Auschwitz ermordet. Diese Geschichten haben mich sehr geprägt. (…)
Und Laura Ghinda, eine weitere Teilnehmerin, verbindet mit der Aktion folgende Hoffnung:
„Ich wünsche mir, dass die Mehrheitsgesellschaft und die Behörden unserer Minderheit künftig mit mehr Toleranz, Verständnis und Kooperation begegnen. Von dieser Kampagne erhoffe ich mir, dass sie ein Stück dazu beiträgt.“
Laura Ghinda, Romni
Die Postkarten sind seit dem 2. August 2021 u.a. in der Stadtinformation sowie in verschiedenen Münchner Kultur- und Stadtteileinrichtungen (z.B. Stadtbibliotheken) erhältlich. Die erste Auflage umfasst insgesamt 50.000 Exemplare.

Die Postkarten können kostenlos bestellt werden, unter >
fachstelle@muenchen.de
Online ist die Kampagne zu finden unter
www.muenchen.de/demokratie
sowie über die Social Media-Kanäle der Landeshauptstadt München:
- Facebook > https://www.facebook.com/Stadt.Muenchen/
- Twitter: @StadtMuenchen
- Instagram: @stadtmuenchen)
(Pressetext – Ende -)
Obigen Text kann ich sowohl in den positiven wie auch in den negativen Passagen aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Entsprechend freue ich mich über die Kampagne, zumal ich mit der Hälfte der Portraitierten persönlich gut bekannt bin und so einiges an gemeinsamen Erlebnissen mit ihnen teile, seit mich Edith Grube am 2. September 2016 erstmals überredete, mit ihr MADHOUSE zu besuchen, das Münchner Beratungszentrum für Sinti und Roma, gegründet 1987 und seither geleitet von Alexander Diepold.

Ramona Sendlinger ist eine Freundin erster Stunde, sprich seit meinem ersten Madhouse-Besuch 2016. Kurz darauf traf sie bei der Eröffnung einer Ausstellung über die Verfolgung von Sinti und Roma in der NS-Zeit wieder; für sie, wie für die meisten der anwesenden Sinti eine Art Begehung eines Familienalbums, denn in den Exponaten begegneten ihnen viele wohlvertraute Gesichter aus den Familienchroniken wieder … Unvergessen der Augenblick, als Ramona vor einem Foto von Dr. Mengele innehielt, dem für seine Menschenversuche berüchtigten KZ-Arzt in Auschwitz. Sie deutete auf ihn und sagte:
Mein Vater ist bei ihm auf dem OP-Tisch gelegen. Dabei war er so ein schöner Mann, der Doktor Mengele … Wie konnte er nur solche Dinge tun?
Sinteza Ramona Sendlinger über die Menschenversuche von Dr. Mengele
In diesem Moment erging es mir, wie Jahre zuvor bei meiner Begegnung mit der jüdischen KZ-Überlebenden und Künstlerin Rachel Knobler: Das unfassbare Leiden der Sinti und Roma im Holocaust erschloss sich mir ein kleines Stück weit …

Romni Iovanca Gaspar, 54, Sozialpädagogin und Autorin eines beeindruckenden Dokumentarfilms über den Münchner Sinto Hugo Höllenreiner:
Im Jahr 2008 habe ich bei einer Gedenkfeier in Auschwitz Hugo Höllenreiner kennengelernt, einen Sinto aus München, der mehrere Konzentrationslager überlebt hat. Diese Begegnung hat mich sehr bewegt und nicht mehr losgelassen. Später habe ich dann einen Film über seine Lebensgeschichte gedreht und daraus ist eine enge Freundschaft entstanden. (…)
Was zeichnet mich aus?
Ich bin sehr ehrgeizig, neugierig und dickköpfig. Schon immer wollte ich alles wissen und neue Sachen lernen. (…) Wahrscheinlich habe ich deshalb auch mit 35 noch angefangen, Soziologie zu studieren. Und im Moment – mit über 50 – schreibe ich an meiner Doktorarbeit. (…)Was wünsche ich mir für München?
Iovanca Gaspar, Romni, 54 Jahre, im Innenteil des ihr gewidmeten Flyers
Es gibt vor allem eine Sache, die ich mir wünsche – nicht nur für München. Und das ist, dass die strukturelle Benachteiligung von Sinti und Roma – vor allem im Schul – und Bildungsbereich – endlich aufhört. Ich selbst habe erlebt, wie wichtig Bildung dafür ist, im Leben etwas zu erreichen. Deshalb bricht es mir das Herz, wenn ich sehe, dass Kinder grundlos auf die Förderschule geschickt werden, nur weil sie unserer Minderheit angehören.

Mit Iovanca Gaspar und ihrem Mann Josif verbindet mich die Erinnerung an so manches Kulturerlebnis, wie 2017, bei Dirk Schiffs Red-Carpet-Vernissage We are all the same! – Wir sind alle gleich!, bei der Josif auf nachstehendem Foto mit Uschi Glas zu sehen ist.


Adrian Coriolan Gaspar, der Sohn von Iovanca und Josif, führte ab 2008 eigene Interviews mit Hugo Höllenreiner und setzte dessen Erinnerungen musikalisch in seinem ersten Orchesterwerk Symphonia Romani – Bari Duk um, einem Oratorium für Solo-Bass, gemischten Chor und Orchester.

Besonders beeindruckt haben mich die Begegnungen mit dem Sinto und Holocaust-Überlebenden Peter Höllenreiner, dem jüngeren Bruder von Hugo Höllenreiner. Meine Eindrücke hielt ich in einem Blogbeitrag zu Luigis Toscanos Ausstellung von Holocaust-Überlebenden fest, die auch ein Portrait Peter Höllenreiners beinhaltet: „Bis zu seinem Tod, 2019, kannte ich ihn als einen der liebenswertesten und attraktivsten alten Herren, die mir je begegnet sind, empfand ihn stets als das, was man eine „Erscheinung“ nennt! (…)“ > MEHR
Oben rechts Peter Höllenreiner auf dem Flyer der städtischen Kampagne
Untere Reihe, links: Peter Höllenreiner mit Alexander Diepold; rechts neben ihm Erich Schneeberger/Vorsitzender des Landesverbands deutscher Sinti und Roma in Bayern, Romani Rose/Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma sowie Christine Strobl/Münchner Bürgermeisterin a.D. im Rathaus
Unteres Foto rechts außen: Peter Höllenreiner in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz
In seinen letzten Lebensjahren besuchte Peter Höllenreiner wiederholt die KZ-Gedenkstätte Auschwitz, den Ort seines Martyriums als kleiner Junge, traf dort Papst Franziskus, nach eigener Aussage ein Höhepunkt seines Lebens und betätigte sich als Zeitzeuge, insbesondere in Gesprächen mit der Jugend, obgleich ihm das seelisch schwer zusetzte. Aus Anlass seines Todes bedachte ihn Alexander Diepold mit einem bewegenden > Nachruf

Gut finde ich, dass die Kampagne „Ich bin Münchner*in – Ich bin Sint*iza / Rom*ni“ der Öffentlichkeit bei der Auftaktveranstaltung des djangoO-Festivals of Gypsy Music vorgestellt wird, denn Gypsy-Music erfreut sich einer breit gefächerten Beliebtheit in der Bevölkerung, ganz im Gegensatz zu deren SchöpferInnen und InterpretInnen. Wie passt das zusammen? Gar nicht! Mir erscheint das vielmehr als ein klassischer Fall von „Rosinen aus dem Kuchen picken, den Kuchen selbst jedoch stehen lassen“. Schade um die Verschwendung, es gäbe so viel zu entdecken, an Geschichten, Talenten und Persönlichkeiten, wie es die vielen Beiträge zum Thema „Sinti und Roma“ belegen, zu denen ich seit meinem ersten MADHOUSE-Besuch 2016 inspiriert worden bin > Beitragsübersicht (Auswahl)
Samstag, 16. Oktober 2021, 20h
Saal im Alten Rathaus
Eckdaten zur Auftaktveranstaltung des djangoO-Festivals Of Gypsy Music
- Grußworte von Bürgermeisterin Verena Dietl und den Organisatoren
- Präsentation der Kampagne Ich bin Münchner*in – Ich bin Sint*iza / Rom*ni
der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München - Balkan Gypsy-Music: Konzert mit Branko „Bako“ Jovanovic & Ensemble
Eventuell ist das hier in diesem Zusammenhang von Interesse:
Tag des Widerstands der Sinti und Roma gegen das Naziregime (16. Mai 2022)
Veranstaltung in der Seidlvilla, München.
https://academiarromaiorg.wordpress.com/2021/12/02/tag-des-widerstands-der-sinti-und-roma-gegen-das-naziregime/
Eckhardt Kiwitt, Freising
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