Es sind Kühe aus einem Alptraum, die in der Dokumentarfilm-Welt von Aldo Gugolz und Susanne Schüle (DoP) auf dem Dach der Alpe tanzen. Mit diesem Bild im Titel kontrastiert der Film bereits das Klischee idealtypischer Schweizer Höhen, wie Heidi-Schriftstellerin Johanna Spyri sie einst darstellte. Überhaupt menschelt es sehr in diesen Tälern im Tessin, und das eine oder andere Tattoo blitzt ganz im Zeitgeist auf. Zwar erscheint auch hier der Prototyp eines Alm-Öhis, allerdings erschöpft sich die Parallele zum Roman in dessen Optik.

Es handelt sich vielmehr um Philippo Rauber, einen Althippie und Aussteiger, Begründer des Hofes in den 1970er Jahren und Vater von Filmprotagonist Fabiano. Schon früh brachte er den Sohn mit einem exzessiven Lebensstil in Berührung, den Teile der 68-er Generation damals kultivierten: Sex and Drugs and Rock’n Roll fand auch in den Bergregionen des Tessins statt. Entsprechend blickt der knapp 40jährige Bergbauer Fabiano bereits auf eine bewegte Vergangenheit zurück, Drogenprobleme inklusive. Was den Alkoholismus anbelangt, so grassiert dieser im Valle di Vergeletto geradezu, was wenig verwundert, da als Freizeitausgleich zu den Härten des dortigen rustikalen Lebens kaum Alternativen geboten sind.

In einer Filmszene wird einem Verstorbenen eine letzte, leere Vodkaflasche an sein Grab gestellt … Ein vielsagendes Bild in einem Film, der gerade deshalb unter die Haut geht, weil er auf den wohlfeilen Dekor einer Postkarten-Idylle verzichtet. Vielmehr hinterfragt er das Klischee eines besseren, respektive moralisch überlegenen Lebens auf Tuchfühlung mit der Natur, indem er schonungslos hinter die Kulissen blickt.
«Ich fand die Ambivalenz dieser Alp faszinierend: Der Grat zwischen der Schönheit und der Gefährlichkeit der Natur ist sehr schmal. Und die Arbeit dort ist hart und mühsam.»
Regisseur Aldo Gugolz im Interview mit BLICK.CH, Publiziert: 22.11.2020
Ebenfalls so gar nicht ins gängige Bild passt der mysteriöse Tod eines von Fabianos Handlangern, ein Mazedonier, der schwarz auf dem Hof gearbeitet hatte. Böse Gerüchte machen die Runde – und den Menschen auf der Alpe das Leben noch schwerer.

Der Verdacht eines Gewaltverbrechens liegt plötzlich über dem Onsernonetal. Dessen Folgen für die Akteure, insbesondere Fabianos emotionalen Ausnahmezustand, geprägt von Schuldgefühlen und Sorgen bezüglich juristischer Folgen, beleuchtet der Film einfühlsam, ohne jedoch ins Reißerische abzudriften.

(…) Stattdessen setzt «Kühe auf dem Dach» eindrücklich auf Atmosphäre, äußert zu recht Georges Wyrsch auf SRF Kultur unter dem Titel Die Alpträume des Alpkäsers. Und weiter: Da ist zuerst einmal diese außergewöhnliche Menschengruppe, diese Bergbauern-Community aus Leidenschaft: Fabiano, Eva und die beiden neuen Gehilfen hirten, melken und käsen zwischen Ziegen und Kühen, an diesem mystisch aufgeladenen Ort samt seinen Wetterkapriolen. Abends dröhnen sich die Männer gern ein wenig zu. Das gehört anscheinend zum Ritual. Aber da ist auch die soziale Realität: Das alles rechnet sich nicht. Das idealistische Projekt war nie eine Geldgrube, und seit der Geschichte mit dem Toten bringt Fabiano den Ziegenkäse kaum noch weg. (…)
Täglich kämpft der Bergbauer um die Existenz seiner kleinen Landwirtschaft, die ohne staatliche Subventionen längst nicht mehr bestehen könnte. Und nun ist auch noch ein Kind unterwegs … Die schwangere Eva verlässt die Alpe rechtzeitig vor der Geburt, nimmt schweren Herzens Abschied von ihren Tieren; eine der Filmszenen, die das enge Verhältnis zwischen Mensch und Tier auf dem Hof auf berührende Weise dokumentieren.

Nicht zufällig fängt die Kamera von Susanne Schüle gleich zu Beginn Tiere in Nahaufnahmen ein, die das gesamte Bild ausfüllen. Sie stehen für die Menschen auf der Alpe und deren Perspektive auf ihre Tiere, die für sie mehr als nur eine Lebensgrundlage bedeuten.

Daher bedankt sich hier Mensch nach dem Melken auch schon mal respektvoll bei Tier …
Jedoch nicht nur in diesem Punkt spielen die machtvollen Bilder von Kamerafrau Susanne Schüle eine zentrale Rolle im Film: Sie erzeugen zudem jene atmosphärische Dichte, die mitten ins Geschehen katapultiert … Ein cineastischen Erlebnis, das kompromisslos nach Breitwand verlangt. Über seine optische Wirkung hinaus fängt der Film, in aussagestarken Szenen, jenen Facettenreichtum ein, der das Leben an sich ausmacht – sogar auf einer abgelegenen Alpe. So sieht es auch Aldo Gugolz selbst:
«Kühe auf dem Dach» – Eine Metapher des Lebens
Filmemacher Aldo Gugolz in Pilatus Today
Für meinen Teil fieberte ich den Film hindurch mit den Protagonisten mit: Würde wohl der Hof zu retten sein, der Tod des Mazedoniers aufgeklärt werden und vor allem: Würde die Beziehung von Fabiano und Eva, nach der Geburt von Baby Santino, ein glückliches Ende nehmen ..? Der Film folgt den Höhen und Tiefen seiner Menschen, inklusive aller ihrer emotionalen Wechselbäder und nimmt den Zuschauer dabei mit, als handele es sich nicht um einen Dokumentar – sondern um einen Spielfilm; mit dem Unterschied realer Akteure, was die Bindung zwischen Publikum und Leinwandgeschehen noch vertieft, wissend: Die da oben gibt es wirklich …

Aldo Gugolz schafft es somit, über das reine Dokumentieren einer Realität hinaus, die darin enthaltenen Geschichten, via dem Medium „Film“ wahrhaftig zu erzählen. Damit nutzt er das Potential des Lebens selbst, das sich bekanntlich darauf versteht, die allerbesten Plots überhaupt zu entwickeln! Das bestätigen in Kühe auf dem Dach die vielen unerwarteten Wendungen, die der Film nimmt, die jedoch zu Drehbeginn für das Filmteam noch gar nicht absehbar waren …

Links: Moderatorin Ambra Sorrentino, Aldo Gugolz und rechts die begnadete Kamerafrau Susanne Schüle
Kühe auf dem Dach führte mir buchstäblich vor Augen, warum auch in Zukunft das Kino weiter bestehen muss – und wird, in seiner, durch TV nicht zu ersetzenden Eigenschaft als Spielstätte für optisch herausragende Filme! Nicht unbedingt als Ort von Massenspektakeln, aber sicher als kulturelles Juwel, wie Theater, Oper und die großen Museen.

im FFS-Festivaltagebuch
Solcherart cineastische Highlights jenseits des Mainstreams auf Breitwand sehen zu dürfen, wie Kühe auf dem Dach, ist allerdings bislang weitgehend der Eigeninitiative von Kulturschaffenden wie FFS-Festivalgründer und Leiter Matthias Helwig zu verdanken. Ein aufrichtiges Merci dazu!
Zu Matthias Helwig siehe auch >
Von Anfang an überschlugen sich die Filmkritiken und obgleich erst seit 2020 in Umlauf und trotz Corona, wurde Kühe auf dem Dach bereits auf eine ganze Reihe renommierter Festivals eingeladen und vielfach auszgezeichnet.
Das OPEN AIR KINO in Luzern/Alpenquai zeigt den preisgekrönten Film KÜHE AUF DEM DACH (…) Innerschweizer Filmpreis, Goldener Enzian am Trento Filmfestival, Nyon Festival (Visions du réel) -> Prix du Jury, u.a.
Kamerafrau Susanne Schüle und Regisseur Aldo Gugolz präsentieren den Film persönlich.
Von den Machern von RUE DE BLAMAGE.
Zitat aus > www.open-air-kino.ch, 2. August 2021;
Foto: (Facebook-Foto von A. Gugolz/Nyon Festival mit Susanne Schüle)
Doch mein Kinobesuch beinhaltete auch ganz persönliche Aspekte:

Aldo Gugolz und Gaby dos Santos 2021 in Starnberg; Foto: Daniela Koch
„Re-Vo-lumen-Film“ ist ein Name, der mir auf der Zunge zergeht, weil er bis heute Erinnerungen ohne Ende weckt und zugleich einer, dem ich seit 20 Jahren nicht mehr begegnet war, ebenso wenig, wie dessen Schöpfer, mein alter Freund und HFF-Absolvent Aldo Gugolz, der schon lange in Berlin lebt.
Umso größer meine Freude, als ich kürzlich erfuhr, dass er mit einem Dokumentarfilm im Programm des diesjährigen FSFFestivals vertreten sein würde!
Dass es ein Wiedersehen mit einem kleinen Meisterwerk in Aldos Handgepäck werden würde, ahnte ich zum Zeitpunkt dieses Fotos, das vor der Filmvorführung entstand, allerdings noch nicht …

Weil im (englisch untertitelten) Film, neben Schwitzerdeutsch, auch Italienisch gesprochen wird, der Tessiner Haupt-Landessprache, moderierte eine Italienerin, die gebürtige Neapoletanerin Ambra Sorrentino, die selbst in den Breitwand-Kinos regelmäßig eine Filmreihe italienischer Werke präsentiert. Neben einer italienischen Vergangenheit verbindet uns aber auch Rio de Janeiro, wo ich 1993 auf der Copacabana geheiratet habe und Ambra sogar einige Jahre lebte.
Weitere Impressionen vom FFSF-Festival am 27.8.2021 in Starnberg:
V. li. oben im Uhrzeigersinn: Kino-Eingang, eine schöne Nahaufnahme von Aldo Gugolz, Foto: Daniela Koch, die selbst auf dem unteren Foto mit Peter Geisenberger im Kino-Foyer zu sehen ist.
Die Bildrechte, wenn nicht anders aufgeführt, liegen bei Aldo Gugolz und Susanne Schüle.