Am Ende war das Publikum eingeladen, selbst „Lili Marleen“ zu singen, an der Gitarre begleitet von Artur Kolbe, Referatsleiter bei der Hanns-Seidel-Stiftung und Gastgeber des Abends, von dem auch die Idee stammte.
Zugegebenermaßen: Im Vorfeld stand ich diesem Vorhaben ziemlich skeptisch gegenüber – Publikumsreaktionen sind schwer einzuschätzen – und Toni Netzle befand, in der ihr eigenen, drastischen Art, das Lied im Publikum zu singen, sei ein „Sakrileg“. Mir hingegen bescherte es wider Erwarten einen hoch emotionalen Moment, den ich als Echo des Publikums auf das empfand, was wir zuvor hatten Revue passieren lassen: Die Geschichte des Liedes von „Lili Marleen“, ihrer SoldatInnen und der an ihrem Erfolg beteiligten KünstlerInnen.

Foto: Julia Forbes
Einigen Gästen standen beim Singen Tränen in den Augen, verbanden sich doch für sie, wie sie mir teilweise später erzählten, mit diesem Lied ganz persönliche und auch tragische Erinnerungen. Andere Zuschauer_Innen hingegen sahen in diesem Augenblick das Gespenst des Nationalsozialismus erneut heraufbeschworen, zu eng schien ihnen das Lied mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte verwoben …

Einige unserer Gäste mit ziganem Hintergrund erinnerte „Lili Marleen“ nicht nur an das Leid, dass ihren Familien im Dritten Reich widerfahren war, sondern auch an die traumatische Zeit der Balkan Kriege vor zwanzig Jahren, denn dieses Lied ist weitaus mehr, als nur Relikt aus nationalsozialistischen Schreckenszeiten. Zwar trat es 1941, über den Wehrmacht-Sender Radio Belgrad, seinen internationalen Siegeszug an, der Text des Lieds jedoch fügte sich in keiner Weise in die Diktion der Nazi-Propaganda ein:
(…) Alle Abend brennt sie, doch mich vergaß sie lang
Und sollte mir ein Leid gescheh’n
Wer wird bei der Laterne stehen
Mit dir, Lili Marleen?
Aus dem stillen Raume, aus der Erden Grund
Küßt mich wie im Traume, dein verliebter Mund

Eine so deutliche Anspielung auf den Soldatentod konnte einem Regime mit dauerhaftem Bedarf an Kanonenfutter nicht gefallen, insbesondere, weil in dem Lied auch noch die Sinnlosigkeit eines solchen Endes angesprochen wird: „(…) mich vergaß sie lang …“. Goebbels befand, dem Lied „hafte Leichengeruch an“, konnte aber nichts gegen dessen Erfolg ausrichten! Der große Zuspruch, vor allem unter den Soldaten, erklärt sich unter anderem dadurch, das der Text von einem der ihren, einem Gardefüsilier, zwischen 1915 und 1935 geschrieben worden war, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, dem Autor und Grafiker Hans Leip.
In dessen Worten, ergänzt durch die eingängige Musik von Norbert Schultze sowie den Zapfenstreich des Orchesters Seidler-Winkler, fanden im Zweiten Weltkrieg insbesondere die Soldaten sich selbst wieder und ein Stück Heimat in der Fremde –
Bis heute besteht diese Identifikation, wie zu Anfang und Ende meiner Produktion Das Lied von Lili Marleen dargestellt und im anschließenden Vortrag von Wolfgang Ohlert, Oberstleutnant der Bundeswehr a.D., erläutert. Ohlert berichtete über seine Begegnung mit „Lili Marleen“ im Kosovo, wo das Lied inzwischen als Zapfenstreich diente, ausgestrahlt vom Bundeswehrsender Radio Andernach, in der Originalfassung mit Lale Andersen, während Kollegin Marlene Dietrich, mit ihrer englischen Coverversion, die amerikanischen Soldaten ins Bett schickte.

Wie sehr das Lied bis heute die SoldatInnen anspricht, schildert auch Hauptmann Cordula Hochstrate, in einer O-Ton-Einblendung der Produktion: „… dass man damit konfrontiert ist, auch zu sterben. Ich glaube, das ist das, was alle Soldaten verbindet, was auch der Text mit vermittelt, dass es gerade eben auch nicht gut ausgeht in dem Lied. (…) Jeder (von uns) der das Lied hört, hat seine Vorstellung davon, wie die Kaserne aussieht, wie er selber davor steht und wie er sein Mädchen oder (lacht) ich dann eben meinen Jungen in den Arm nehme und ich seh mich vor der Laterne …“
Solange diese Laterne nicht verlischt, wird das Lied auch weiterhin Kriegsschauplätze in aller Welt beschallen. Nur spielt sich das inzwischen weit entfernt von unserem Alltagsleben ab. Eine wenig zielführende Verdrängung von Tatsachen, wenn die Laterne eines Tages verlöschen soll. Insofern fand ich es schade, dass die Soldat_Innen der Bundeswehr, die an diesem Abend zu Gast waren, in Zivil erschienen, vermutlich der momentanen politischen Stimmung geschuldet. Camouflage einmal anders herum? Dabei ging es diesmal eben nicht um die große Politik selbst, sondern um diejenigen, die im Ernstfall dafür gerade stehen müssen, verewigt in einem Lied, das bis heute die Menschen in Uniform anspricht, deren Sehnsucht und Schicksal.

Die Geschichte dieses Liedes enttarnt auch die Sinnlosigkeit des Krieges. In einem Feature des Hessischen Rundfunks „Lili Andersen – Lale Marleen“ von Bettina Leder-Hindemith und Sabine Milewski, berichtet 2000 Komponist Norbert Schultze: „Ich bekam sehr viele Briefe von der Front. … Und zu diesen vielen Briefen gehörten vor allem solche aus Afrika … von der Afrikafront … Dass die gesagt haben: „Wir spielen abends Lili Marleen, und drüben, da lassen wir die Lautsprecher extra so, dass die drüben mithören können. Und es hat sich herausgestellt, dass wir eine Art Waffenruhe machen, damit wir in Ruhe unser Lied hören können. Das ist eine gegenseitige Vereinbarung, ohne, dass darüber gesprochen wird. Aber sie wird eingehalten. Und wir wissen genau: Nach dem letzten Ton von ‚Lili Marleen‘ geht die Ballerei wieder los. … „
Vor diesem Hintergrund finde ich es inzwischen sehr, sehr gut, dass „Lili Marleen“ nach der Show vom Publikum gesungen wurde! Bleibt nur zu hoffen, dass das Lied nicht verstummen und seine Geschichte nicht in Vergessenheit geraten möge, bis die Laterne verlischt …
Zum Thema siehe auch den Beitrag im GdS-Blog:
Lili Marleen untot im Simpl

Die Geschichte des Liedes ist eng mit der Chronik des Münchner Künstlerlokals „Alter Simpl“ (Simplizissimus) verbunden. Während der Produktion des Historicals Das Lied von Lili Marleen freundeten sich die ehemalige Kulturwirtin im Alten Simpl (1960 – 1992), Toni Netzle und Gaby dos Santos an.
Die Titelcollage zeigt, zwischen Schauspielerin und Autorin Toni Netzle und HSS-Referatsleiter Artur Kolbe, die Betreuerin und Moderatorin der dortigen Filmseminare, Christine Weissbarth.
Liebe Gaby, wir sind beide ganz begeistert von Deinem Blog. Alles Liebe Mama und Papa
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ja, liebe Gaby Dos Santos, ich kann dem Eintrag von „Mama und Papa“ nur zustimmen. Auch ich bin ganz begeistert von Deinem Blog – die Beste und gleichzeitig informativste „Nach-Denkschrift“…Kompliment, da ziehe ich meinen Hut. Weiter so. Poetische Grüsse, Peter Rubin, Dichter dran…“Alles ist Poesie!“
PS – das nachfolgende Gedicht als meine kleine Aufmerksamkeit…
Oh, wie ich das weiß
Wenn ich schlendere
Und den Duft
von Himbeerblüten
Atmen darf
zu pflegen die
Liebe zu Dir
und deine Wege
Erkenne, oh meine Sonne
Wenn rote Geranien
Leuchtend strahlen
und
Birken sich beugen
im Chor seitwärts
Im rauschenden Kleide, flüsternd,
ihr maigrünes Lied,
da ich bin
ganz Ohr und hin
und frage und von
Ferne winkt Golden
der Sommer –
Wenn die ersten
Schwalben ziehen
Atme ich aus – der Frühling
ist nur ein Atemzug…
Oh, wie ich das weiß.
Peter Rubin , Dichter dran Copyright 2008/2013
Alle Rechte beim Autor.
6.8. 2012 & 16.02.2013
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089-3519696
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Lieber Peter, was für ein wunderschönes Gedicht – so viel Leben und Liebe darin, ein lichter Kontrast zu meiner Laterne. Danke Dir sehr, G. 🙂
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